verrückt, verdreht, verkrümmt
zerfasert, zersplittert, zerschlissen
schattig, bläulich, bekümmert
unbehaust, seltsam, allein
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55 | Ekstase, Rausch und Illusion
Als ich nüchtern auf die Welt sah
begann ich zu resignieren –
es gibt keine Anker
im Strom der Ereignisse.
Gerade noch so können
wir uns verabreden
einander zu begegnen.
Sogenannte “Leader” nutzen das,
indem sie den Ziellosen Orientierung geben –
bis in ihren Tod.
54 | Spaziergang von 61 nach 36
Schliesse beide Schlösser
an der Wohnungstür zu.
Pappelsamen sammeln sich zu Büscheln
auf den dunkelbraunen Fliesen im Hausflur.
Wir gehen unsere Strasse
bis zur Brücke hinauf,
steigen die Treppe
zu den Gleisen hinab.
Durchqueren den Park
bis zur Obentraut,
spazieren im Schatten
bis zur Zossener.
Wo der “Brachvogel” stand,
ist alles leer.
Rasten im kühlen Blau
unter weissen und roten Kastanien.
Überlegen kurz am KAU
nach dem Prinzen zu fragen.
Doch das verbiete ich mir.
Überqueren den Kottbusser Damm.
Nehmen am Maybachufer
einen veganen Donut in Empfang.
Am Ufer spielt eine Funksoul-Band.
In der Tabor gehen wir zur Schlesischen,
steigen in den 265er und fahren zur Manteuffel.
Ein indisches Restaurant lockt mit seinen Düften.
Zurück zuckeln wir mit dem 140er.
Die ingwerscharfen Speisen schlagen
noch etwas auf den Magen.
In der Katzbach verlassen wir den Wagen.
Dies war ein besserer
von überwiegend traurigen Tagen.
53 | Mit Sternies im Park
Im Schatten eines Haselbaumes
schmausten wir Torte
und losten mit zwei Stecken,
wer Sternies für das Wegbier hole.
Ich durfte auf der Bank warten
und Gottt hebelte den Kronkorken
an der Tischtennisplatte
in der Hornstrasse
auf.
Wir schlenderten dann
in den Gleisdreieckpark
von Bank zur Schaukel
und lobten die menschliche Staffage.
Mit Schwung flogen wir an langen Ketten
in die Höhe und hielten
schließlich für die Kleinen an,
die auch mal schweben wollten.
Der Flieder duftete und buschte.
Und wir redeten noch ein bißchen auf dem Balkon,
doch war’s uns bald zu warm,
so wechselten wir in den Salon.
Als das Kind kam aßen wir gemeinsam.
Später entwarfen wir einen Plan,
wie man in Berlin doch noch eine Wohnung bekommt,
obwohl man mittellos ist und, wie das Kind, jung.
Wir sprachen auch über den schrecklichen Krieg
und die möglichen dunklen Perspektiven.
Gottt zeigte mir einen Film mit dem originalen Schloß
im Hintergrund, der aus den frühen Fünfzigern stammt.
Habe dann noch die Postkarten vom Dahmer Hof
von vor hundert Jahren vorgekramt,
auf denen auf einer von ihnen
die legendäre Urahnin Dorette vor ihrer Pension stand.
Gegen Mitternacht wurde ich müde
und Gottt ging nachhaus.
Wir sehen uns bald wieder
und in Kürze schon
brechen wir zu einer Reise in den Norden auf.
52 | Kladderadatsch
Aus dem Nest geschubst,
ging’s Porzellan zu Bruch
– doch Scherben bringen Glück.
Dir schwillt die Brust.
Für Dich geht’s aus.
Kaufst Herd und Haus.
Und ich bin frei,
wie ein Pusteblumenschirm im Wind.
51 | Ob Du mich liebtest
Die Frage, ob Du mich liebtest,
verbot sich
und nun stellt sie sich nicht mehr.
Wir trieben eine Weile im Fluß nebeneinander her.
Heute gleite ich einsam
und ich weiß nicht,
ob meine Trauer daher kam,
dass ich die Frage aufgeben mußte.
50 | Schwarzer Samt
Schwarzer Samt mondloser Nacht –
umfange mich.
Dunkler Abgrund, tiefe Schlucht –
nimm’ mich auf.
Kein Frühjahr soll mich trösten.
Mich ganz bedecken trockenes Laub.
Kein Sommerlied sollen Amseln singen.
Ich sinke hinab und werde zu Staub.
49 | Eine Reise
Ich saß mit Deinem Kind an der ionischen Küste.
Der Wind spielte kühl mit ihrem langen Haar,
die Wellen spülten an den Strand.
Wir wanderten entlang der kleinen Strassen
durch die Haine von Zitronen und Orangen.
Die Palmenwedel flatterten wie Fahnen
und magere Katzen strichen durch den Garten.
Er schloß sich an die Terasse an.
Wir naschten von den saftigen Früchten
des Feigenkaktus und kämpften gegen die Stacheln.
Am Abend aßen wir aromatische Tomaten
und krochen nachts zwischen Leinenlaken.
In der Siedlung heulten die Hunde.
Der Ätna ragte blau in den Himmel.
Am Fuß der griechischen Theaters
von Syrakus leuchtete das Meer.
48 | Menschheit
Gut acht Milliarden leben auf dem Globus
unter der gleichen Sonne
– fürchten sich vor Hunger, Krieg und Leid.
Man kann unter Milliarden einsam sein.
Glücklich, wem gegeben ein Freund.
47 | Zustandsbeschreibung
Reibe die Salzkruste aus den Augenwinkeln.
Warte auf Inspiration am trüben Horizont.
Kratze am Schorf auf nervöser Haut.
Seufze laut.
Lecke versonnen die Oberlippe.
Strecke mich unter der wollenen Decke aus.
Des Ofens volle Aschenlade staubt.
Schwere Atemzüge sind geronnen.
Und vor den stumpfen Fenstern
spriesst das grüne Lindenlaub.
Lieber als einer ungewissen Zukunft zu zueilen,
ruhe ich mich vom Nichtstun aus.