Wie ich den lauen Frühlingswind genoß.

“Einst lagen die Jahre hoffnungsvoll vor mir. Der Frühling duftete nach Flieder und laue Winde strichen über meine Stirn. Das Leben war voller Möglichkeiten und Verheissungen und ich zog nach Kassel um Kunst zu studieren. Doch in der neuen Umgebung, allein in meiner kleinen Wohnung, vermisste ich bald den Trubel unserer vielköpfigen Familie am Abendbrotstisch. Ich bekam Ängste, wie ich leisten könne, was ich doch schon sein wollte – eine Künstlerin zu sein, die mehr zu sagen hatte, als die vielen, die es ihr gleich taten. Nach einer Weile gab ich meinen Plan, Kunst zu studieren, auf. Ich fühlte mich noch nicht reif dafür. Zwar hatte ich bis dahin schon einige Klassen besucht und mit technisches Können angeeignet, aber ich beschloß etwas Praktischeres zu studieren, was mich in die Lage versetzen würde, Projekte zur Ausführungsreife zu planen und in einer Stadt zu leben, in der Kulturen aus der ganzen Welt zu etwas Neuem verschmolzen. So zog ich nach Berlin und schrieb mich an der TU für das Architekturstudium ein. Hier waren weibliche Studierende noch in der Minderheit und mein konzeptueller Ansatz – Ort, soziale Struktur und Geschichte – in den Entwürfen zu berücksichtigen, wurde von meinen männlichen Kommilitonen – mit denen ich in Arbeitsgruppen zusammenarbeiten sollte – als störend belächelt und ignoriert. Sie orientierten sich an ihren Helden des Bauens und taten meine Ideen ab. Außerhalb der Universität interessierte sich niemand sonderlich für das, was ich in meinem Studium tat und ich fühlte mich isoliert. So zog ich mich nach und nach aus dem Studium zurück und erwärmte mich nur besonders für die Entwurfsklassen und das plastische Gestalten. Außerhalb der Universität begann ich Gesangsunterricht zu nehmen und übte auch einige Zeit Klavier. Ich plante verschiedene Performances und glitt zum erstenmal in eine tiefe seelische Krise, bei der ich gänzlich den Boden unter den Füssen verlor. Damals kam ich mit einer Esoterikerin in Berührung, die mich durch die lange Phase der Rekonvaleszenz durch viel Kontakt begleitete. Sie hatte einen Sohn und er wuchs heran, während ich mit seiner Mutter Stunden um Stunden verbrachte um das I Ging zu studieren und mein Horoskop zu interpretieren. Meine Mutter hatte wenig Verständnis für das, was ich trieb und versuchte mich durch strenge, ausladende, geisselnde Briefe auf ihren Kurs zu setzen. Ich jobbte und schliesslich begann ich Schmuck aus Materialien zu fertigen, die nicht allergen waren – Holz, Gummi, Kunststofffaden, verschiedenen Perlen aus Glas oder Naturmaterialien. Damals wurde ich durch eine Therapeutin begleitet, die guten Willens war. Geriet ich unter Druck, brach ich seelisch wieder zusammen. Aber diese Zeit, in der ich in der Woche meine Waren gestaltete und am Wochenende auf dem Kunsthandwerksmarkt verkaufte, möchte ich nicht missen. Alles war überschaubar und es zählte nur das Nächstliegende. Dann gingen meinen Verkäufe zurück. Die Stimmung auf dem Markt wendete sich und ich verkaufte nicht mehr genug. Ich beschloß an die Uni zurückzukehren, denn eine Schmuckproduktion in Kooperation mit einer Fertigung – Ausbeutung – in der dritten Welt wollte ich nicht aufziehen. Es bot sich mein späterer Mann als Beschützer an und dankbar, mich anlehnen zu dürfen, bekamen wir eine Tochter. Er war viel auf Reisen in den ersten Jahren und ich war wieder sehr isoliert, denn während die anderen ihren Tätigkeiten in der Gemeinschaft nachgingen, verbrachte ich die Tage mit dem kleinen Kind in einer Wohnung im Dachgeschoß in einer anonymen Nachbarschaft. Wenn mein Mann von seinen Reisen zurückkehrte, waren Ferien angesagt und alles glänzte. Doch oft waren unser Kind und ich für Wochen allein. Wieder glitt ich in eine tiefe seelische Krise, die ich doch gehofft hatte durch die Mutterschaft ganz überwinden zu können. Sie mündete in einem Selbstmordversuch, der glücklicherweise durch eine Nachbarin verhindert wurde. Mein Kind war Zeugin von alledem. Mein Mann abwesend. Danach trennten wir uns für mehrere Jahre. Ich machte eine Weiterbildung und fand Arbeit, aber nur für eine kurze Zeit. Dann machte ich mich selbstständig. Eine Zeitlang hatte ich zwar ein prekäres, aber ein Einkommen und schuf wunderschöne Webseiten, die damals aussergewöhnlich waren. Ich arbeitete viel für eine Grafikerin und wir waren ein gutes Team. Unsere Websites sind teilweise seit 15 Jahren unverändert im Netz. Auch in dieser Zeit geriet ich unter Druck in Krisen, doch meist waren sie kurz und schnell überwunden. Dann folgten einige ruhigere Jahre. Schliesslich erkrankte ich physisch und das hatte eine schwere seelische Krise zur Folge. Nun trennte sich mein Mann nach 33 Jahren endgültig von mir. Ich war wie paralysiert. Es hat gut sieben Jahre gedauert aus dem Tief herauszukrabbeln. Mein zwischenzeitlich begonnenes Studium der Philosophie konnte ich nicht abschliessen. Aber den Plan zu schreiben, habe ich konsequent verfolgt, obwohl ich darin am wenigsten erfolgreich war.”

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