59 | Wohlleben

Ich vergesse die feinen Damen nicht,
die mich im “Paris-Moskau”
nicht an den Tisch bitten wollten.
Wie sie mir sagten, weil ich nicht
zu ihrer Klasse gehörte.

Dabei hatten Sie Tränchen in den Augen
und der Schaumwein perlte in ihren Gläsern.
Das war der Tag, an dem man mir ein Ticket
am Bahnschalter schenkte,
um am nächsten Morgen in aller Frühe
von Berlin nach Moskau zu fahren.

Damals wollte ich in Friedensmission
in den Kreml – aus Gründen fuhr ich nicht.
Ich war wohl übermütig,
dass ich es wagte, die propperen Bürgersfrauen
in ihren geblümten Kattun-Blüschen
um eine Einladung zu bitten,
um im Austausch ein wenig Farbe in
ihren blassen Sommerabend zu bringen.

Sie hatten den Mut nicht
und schwiegen sich
lieber gegenseitig an
und der Kellner
komplimentierte mich schließlich hinaus –
da war eine Chance vertan.

Wahn

Aus der Kränkung des Individuums – überwiegend einsam und ohnmächtig einer sinnlosen und überwältigenden Realität gegenüber zu stehen, geschieht eine Umdeutung der Ohnmacht in Macht oder zumindest einer Wirklichkeitsdeutung in der der Einzelne im Zentrum des Interesses steht. Der Wahn macht es erträglicher, der stumpfen Faktizität gegenüber zu treten. Die Zusammenhangslosigkeit wird deutbar und die Fragen erhalten Antworten. Zufälle werden aus dem Weltbild eliminiert, Unerklärliches erklärt. Diesen Ausweg aus der Erfahrung der Rohheit der nackten Existenz, möchte man sich natürlich nicht nehmen lassen und reagiert äußerst aggressiv auf Interventionen, die das wahnhafte Weltbild bedrohen.