22 | Was ist der Mensch?


Ein Bißchen Sternenstaub.
Ein Häufchen Haut und Knochen.
Ein ewig sehnsuchtsvolles Herzensklopfen.
Ein Sturm im Wasserglas.
Ein unentwegtes Hoffen.
Ein traurig, grausam, schlaues Säugetier.
Ein unverbesserlicher Narr.
Kaum dass er lebt,
ist er auch schon gestorben.
Doch andererseits erstrahlt die Welt
in seines Lächelns Glanz,
wenn Morgenlicht hoffnungsvoll
den neugebornen Tag erhellt
nach windumtoster Nacht.

Happy Yalda! Gestern Abend in der Philharmonie – u.a. trug Martina Gedeck Brecht und Bachmann vor

Bertold Brecht

AN DIE NACHGEBORENEN

1

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/die-nachgeborenen-740

Ingeborg Bachmann

Nach dieser Sintflut

Nach dieser Sintflut
möchte ich die Taube,
und nichts als die Taube,
noch einmal gerettet sehn.

Ich ginge ja unter in diesem Meer!
flög’ sie nicht aus,
brächte sie nicht
in letzter Stunde das Blatt.

21 | Häute

Um uns Form zu geben,
streiften wir Häute über
und boten einander
konturierte Schatten.

Wir hielten still,
damit sie nicht zerbarsten.
Doch unausbleiblich kam der Tag,
den wir vermieden hatten
und es lag bloß,
dass wir in Wahrheit amorph
und rätselhaft waren
und keine Anker ineinander hatten,
obwohl wir uns das – bis dahin –
voneinander versprachen.

Enttäuscht und vorwurfsvoll
streckten wir die alten Masken
des jeweils anderen einander entgegen
und gingen fortan allein
unserer unbestimmten Zukunft entgegen.

20 | Bleibe ich süß?

Bleibe ich süß,
weil Du mich dann liebst?
Lächle ich fein
und schmeichel mich
in Dein Herz hinein?

Ich winde mich
und überwinde mich,
Dir zu sagen,
was mir auf der Seele liegt,
auch, wenn’s Deine Vorstellungen
von mir in ideal eintrübt.

Es macht mir kein Vergnügen,
drum kommt es krumm
– doch besser ist’s,
als blieb ich stumm
und Du trügst ein falsches Bild
mit Dir herum.

19 | Auch wenn

Auch wenn Dich niemand im Besonderen liebt
– die Welt liebt Dich
und küßt sogar bei schlechtem Wetter
tröpfelnd Dein Gesicht.

Auch wenn Dich niemand wärmt,
wenn Du Dich zur Ruhe legst,
findet sich stets eine gute Decke,
die Dich umhüllt.

Geh’ nur ruhig Deine Wege
und vergiß die Treuen nicht,
die Dich begleiten.
Denn Du kannst viel mehr als nur Freude
mit Ihnen teilen.

Und wenn ein Mensch mit Sorgen
vor Dir steht, sei freundlich,
wenn Du kannst.
Schenke ihm Verständnis
und ein Stück
von all dem Glanz.

Dota: Mascha Kaléko – Kleine Havelansichtskarte

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18 | Zukunft

Weder traurig, noch vergnügt.
Weder lustig, noch betrübt.
Vor mir – was?
Doch stehe ich nicht allein.

Ich sehe unsere Kraft.
Laßt uns die Zukunft sein.
Träumerinnen, Poetinnen,
Malocherinnen und Weltverbesserinnen.

Die Schinder verlachen wir
und kränzen unsere Häupter mit Blumen.
Wir nehmen einander die Ketten ab
und tanzen mit den Musen.

Wer gestrauchelt war,
dem helfen wir auf.
Wer gebeugt wurde,
den richten wir auf.

Wer Trauer trägt,
dem stehen wir bei,
damit auch er – eines Tages –
gestärkt und frohen Mutes sei.

Ja, WIR wollen die Zukunft sein!
Die Welt wollen wir freundlich gestalten
und alle Tyrannei zur Stadt hinaus geleiten.
Nach uns werden die Waffen schweigen,
wir werden auch Krieg und Opfertod vertreiben.

Müssen wir auch listig sein,
um unser Ziel zu erreichen,
wir werden doch auf lange Sicht
etwas Besseres als die Alltäglichkeit
von Zynismus, Härte, Dummheit
und Gnadenlosigkeit erstreiten.

16 | Die Götter wispern leise ihr Lied


Der Himmel verschmilzt mit dem Horizont über der See
und man sagt, Göttervater Zeus wuchs hier auf.
Die Strassen winden sich in engen Kurven
entlang der Küste die Berghänge hinauf.
Die Schönheit und Dramatik der Landschaft
färbt ab auf das Samt der Besucherinnen-Seidenhaut.
Das Mittelmeer strahlt griechisch Blau.
In Buchten schaukeln sanft die Boote
und die gelb-rote Erde trägt Olivenhaine.
Nur die Pistazien beim Lidl
kommen – wie zuhaus – aus Californien.