Noch Winter

Ich liege in meine warme Decke aus Yak-Wolle gehüllt und versuche zu klären, was die Konsequenzen aus den frischen Einordnungen über mein vergangenes Lebens sind. Wie war es möglich gewesen, dass ich die Gewalt übersehen hatte, die meine Beziehung durchzogen hatte? Zum einen war sie wohl schleichend und leise in mein Leben getreten, zum anderen hatte ich auch Unberechenbarkeit und Gewaltätigkeit in meinem Elternhaus erlebt. Gewalt war also für mich eine Kategorie gewesen, die immer möglich in intimen Beziehungen war. Sie brach über einen herein, ebbte wieder ab und man tat, als sei nichts geschehen. Zum anderen war die Erfahrung psychisch so schmerzhaft gewesen, dass ich dissoziierte und mich im direkten Nachgang nicht mehr genau an die Geschehnisse erinnern konnte. Ja, ich machte mich verantwortlich für das, was passiert war. Jetzt, gekräftigt von der Selbstständigkeit, kann ich mich wieder an die Vorgänge und ihre Chronologie erinnern. Erstaunlich ist auch, mit welcher Abwehr die Umwelt reagiert. Die Reaktionen sind – vorsichtig gesagt – sehr zurückhaltend. Aber das spielt keine so grosse Rolle, wichtig ist, dass mir die Zusammenhänge klar werden. Ich werde besser gewappnet in eine glücklichere Gegenwart und Zukunft gehen. Kompromisse habe ich nicht mehr nötig. Bei mir schrillen alle Alarmglocken, wenn ein Mann indiskret wird. Welche Absichten hat er? Was will er? Und ich? Bin frei, wie nie zuvor. Ich entscheide über alles, was mein Leben betrifft, ganz für mich allein. Ich habe Freunde gefunden auf die ich mich verlassen kann. Ich bin der Gewalt entronnen und so gesund, wie seit Jahrzehnten nicht.

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