Zorn

Nichts veranlaßte sie aufzustehen, selbst wenn der März sein fröhliches Frühlingslicht durch die trüben Fensterscheiben ihres Schlafzimmers schicken mochte. Sie zog die Mundwinkel herab und versuchte etwas zu denken, das ihr heraushelfen würde aus dem Überdruß. Schlechtgelaunt grübelte sie über ihre Optionen in der nächsten Zeit nach. Sie würde sich wieder verausgaben müssen. Diesmal in drei Schichten. Und konnte noch froh sein, dass sie etwas gefunden hatte, das mehr als den Mindestlohn brachte. Sie wußte, dass es ihr besser gehen würde, sobald sie wieder in Bewegung war. Was wäre auch die Alternative gewesen? Von der Hand in den Mund zu leben und 24/7 Wortkitsch zu produzieren, der letztlich eine Handvoll interessierte? Noch eine Liebesschmonzette, noch ein Frühlingseloge? Ja, verdammt nochmal, die Krokusse streckten wieder ihre Blüten dem Blau des Himmels entgegen, doch sie war längst in der Menopause angelangt. Sie ging zum Tiefkühlschrank in der Küche, den sie sich im letzten Jahr von ihrem Gehalt gekauft hatte, nahm das Vanilleeis heraus und füllte sich eine Portion in eine kleine Schale. Das Gerät hatte sie in erster Linie erworben, um ihre Wollpullover vor Mottenfraß zu retten. Immerhin dies war auch geglückt. Auch die schönen Reisen im selben Jahr hatten zu einer vorübergehenden Zufriedenheit beigetragen. Doch nun schien das Kommende in erster Linie Mühsal zu sein. Daß die Kriegstrommeln immer lauter geschlagen wurden, machte es nicht besser. Daß, wer für sein Brot sorgen mußte, verachtet wurde und es nur unter Aufwendung aller Kräfte vollbrachte, ebensowenig. Ja, sie mußte wohl eine schreckliche Idiotin sein, weil sie in ihrem Alter so schubbern mußte. Andererseits konnte sie sich glücklich schätzen, dass ihre Gesundheit es zuließ. Mit Zorn bemerkte sie den dumpfen Schmerz unter ihrem Solarplexus. Sie hatte nicht vor, sich untersuchen zu lassen. Ihre Blutwerte waren hervorragend, noch einmal würde sie sich keinem Krankenhaus ausliefern. Das alles war sicher nur ein Ausdruck ihrer inneren Konflikte, ihrer Unlust, ihrem Wunsch nach sorgloser Leichtigkeit und ihrem Widerwillen gegen die tatsächlichen Gegebenheiten.

40 | Kreuzung

An der Kreuzung vor der Ampel
brummt eine wartende Chaise.
Passanten palavern und lachen
laut unter’m Fenster.
Das Signal springt von rot nach grün um,
die Karre fährt an.

Der Monitor leuchtet im Dunkeln.
Das nächste Auto rollt rauschend heran.
Ein Tag verflog gemütlich
vor der Öffentlichkeit verborgen.
Die geschäftigen Zeiten
ziehen allzu bald schon herauf.

Ich genieße die leeren Stunden nicht.
Sie erinnern mich
an meine Pflichten
als Autorin und Chronistin.
Ich sollte an Dialogen schreiben,
über sprechen und schweigen.

Niemand erwartet das von mir
– nur ich.

39 | An einem stillen Sonntag

An einem stillen Sonntag im März 2024
sitzen wir in einer verstaubten Stube
und lesen die – in rotes Leinen
eingeschlagenen – gesammelten Werke
eines Meisters des vergangenen Jahrhunderts.

Die Gedichte lesen sich wie Prophezeihungen
für eine dunkle Zeit, die sich wieder macht bereit.
Doch wo sind heute die klugen Arbeiter,
die keine Sklaven unter sich wollen?
Es gibt sie, doch sie werden erneut angefeindet.

Müde treten sie morgens ihre Schichten an.
Man hetzt sie aufeinander und nur, wer nicht muckt,
kann auf längere Sicht auf einen Arbeitsplatz hoffen.
Ihnen sind die Solidaritätslieder nicht mehr bekannt,
so wenig wie der notwendige Klassenkampf.

Und zeigen sie doch mal ihre Kraft,
entreißt man ihnen die Verhandlungsführerschaft.
Man verlangt, dass sie reibungslos funktionieren
und sich über ihre Lage nicht beschweren.
Was genügen soll, das ihnen an Lohn und Zeit zum Leben verbleibt,
wird von Wohllebenden mit aller Eiseskälte beurteilt.

Was also dürfen wir erwarten?

Von uns selbst sehr viel, von anderen nichts. Umso bezaubernder, wenn wir mit Güte überrascht werden. Und tatsächlich begegnet sie uns viel häufiger, als zu vermuten ist. Dieser liebe Mensch, der Dich in den Arm nimmt, der Dir aufmunternd zunickt, der Dich mit einem Anruf überrascht, der geduldig ist, wenn Du der Geduld bedarfst. Dies sind Deine Verbündeten. Ihretwegen lohnt die Mühe. Und wie oft bist Du im Leben anderer genau dieser Mensch. Manch’ einer wird in die Welt gestellt ohne, daß ihm überhaupt der Sinn dafür geschärft wird. Vor vielen Jahren schenkte mir eine Freundin – in einer Phase der Verzweiflung und Orientierungslosigkeit – das Buch “Trendwende Ermutigung” von Marianne und Erik Blumenthal – es hat in mir bis heute nachgewirkt. Auch das eigene Beispiel kann andere ermutigen, loszugehen und das Leben zu versuchen, zu wirken, mögen die Spielräume auch noch so eng sein. Natürlich liegt vieles nicht in unserer Hand und wir können nicht voraussehen, wie sich die Dinge entwickeln, das Leben steckt voller unerwarteter Wendungen und Überraschungen und nicht alle sind angenehm. Lieber blieben wir behaglich eingerichtet, wie der kleine Hobbit in unserem komfortablen Heim und werden mehr in die Abenteuer gezwungen, als dass wir sie wirklich suchen und daher können wir uns auf die Herausforderungen auch kaum vorbereiten – wenn sie da sind, sind sie da. Dann aber wachsen uns auch ungeahnte Kräfte zu, die uns Wege gehen lassen, die wir von allein nie gewählt und auf denen zu gehen wir lieber verzichtet hätten. Ob wir es zu einem guten Ende bringen, das wissen wir nicht, versuchen müssen wir es trotzdem, um der Gütigen und unserer selbst willen.

38 | Lösung

Möchte lösen das Band,
das an die Dunkelheit band.
Möchte heraustreten aus dem
“Was-sollte-gewesen-sein.”

Möchte ziehen mit dem Schein
der Gütigen, die zur Tür traten ein.
Möchte danken dem Wind,
der zärtlich die Trauer mit sich nimmt.

Möchte das Feuer bitten,
die Bitterkeit auszulöschen.
Will mit Märzblüten tilgen,
was das Herz soll verwinden.

Manchmal

Medea: “Manchmal grabe ich süße Erinnerungen aus, doch nicht lang, dann holen mich die dunklen ein. Bist durchgekommen mit allem. Stockholm Syndrom. Spätestens mit unserer Hochzeit war klar, dass es kein gesundes Fundament gab. Du hast genommen und wirst weiter nehmen, denn Du denkst, Dir stünde alles zu und mit diesem Recht raffst Du alles an Dich. Und ich war dumm genug zu glauben, ich würde geschont – geehrt gar. Doch ich werde unsere Brut vor Dir beschützen. Inkognito werde ich voran gehen und die üble Nachrede Lügen strafen.”

37 | Schäume und Meere

Blattlose, dunkle Zweige an Büschen
voll weißschäumender Knospen und Blüten.
Den Kopf in die Höhe gereckt.

Zuhaus – mir zur Freude –
das Blühen des Hibiskus
in rosé entdeckt.

Was macht’s,
daß die Erinnerung
seltsam verblaßt?

Eines Tages werden
Okinawas Kirschblüten
in unsere Haare wehen

Und wir wieder leuchtenden
Amber vom Tang
am Saum des Meeres auflesen.